Es ist kein neues Phänomen, dass Kinder nicht bei beiden Elternteilen aufwachsen. Schon früher gab es Alleinerzieher und Patchwork-Familien. Unser Autor Gerold Keusch ging mit seinem siebenjährigen Sohn auf eine Spurensuche in die Vergangenheit der eigenen Familie.
- Verhängnisvoller Nachmittag
- Witwe zwischen den Kriegen
- Rückkehr zur Mutter
- Elternhaus
- Kapelle und Krieg
- Hermannsdorf
- Das Dorf
- Familie ohne Grab
- Resümee
Verhängnisvoller Nachmittag
Unsere Reise in die Vergangenheit beginnt bei einem Kreuz in Matzendorf bei Amstetten. Dieses markiert den Platz, an dem am 21. Juli 1929 um 15 Uhr Josef Keusch, mein Urgroßvater, in der Ybbs ertrunken ist. Damals war der Fluss noch nicht reguliert. Nach jedem Hochwasser hatte die Ybbs ein anderes Flussbeet; seichte Stellen verwandelten sich in tiefe und umgekehrt. Das wurde dem Urgroßvater zum Verhängnis. Er konnte nicht schwimmen und ertrank.
Wir stehen neben dem Kreuz und blicken auf den Fluss. Wir unterhalten uns darüber, wie die Geschehnisse an diesem Tag wohl gewesen sein mögen. Wie die Menschen vor Ort auf den Unfall reagiert haben. Wie der Bruder versucht hat, den Urgroßvater zu retten. Ihn zwar fassen konnte, aber dennoch auslassen musste, um nicht gemeinsam mit ihm unterzugehen. Kaum jemand konnte damals schwimmen. Heute ist es unvorstellbar, an einen See oder Fluss zu fahren, um sich abzukühlen ohne sich über Wasser halten zu können. 1929 war das normal.
Witwe zwischen den Kriegen
Wie ist es seiner Frau Maria, meiner Urgroßmutter, erging, als sie erfuhr, dass ihr Mann ertrunken ist? Der Vater ihres neun Monate alten Sohnes Hubert. Der Schicksalsschlag war nicht nur eine menschliche Tragödie, sondern auch eine wirtschaftliche. In der Zwischenkriegszeit gab es keine soziale Absicherung wie heute; keine Witwen- und Waisenversicherung, die ein „normales“ Leben ermöglicht hätte. Es gab auch praktisch keine Möglichkeit für eine Frau mit einem Kind Arbeit oder eine Wohnung zu finden, vor allem am Land.
Was es jedoch damals schon gab, waren Patchwork-Familien. Sie hießen damals Stieffamilien. Diese waren aus der Not geboren, weil der Mann oder die Frau gestorben war und man einen Partner brauchte, um finanziell über die Runden zu kommen. Ohne besonders viel Romantik; wenn doch, dann war das ein angenehmer Nebeneffekt. So war es auch bei Maria.
Rückkehr zur Mutter
Maria hat das Elternhaus ihres ersten Mannes verlassen. Sie ging zurück zu ihrer Mutter nach Hermannsdorf, wo sie ihre Kindheit verbrachte. Ob sie das freiwillig tat oder zu diesem Schritt von den Schwiegereltern gezwungen wurde, oder ob der Grund irgendwo dazwischen lag, ist heute nicht mehr feststellbar.
Maria hat wieder geheiratet. Einen einfachen Landarbeiter, einen attraktiven und tüchtigen Mann. Vermutlich hatte sie den Luxus, dass diese Beziehung auch eine romantische Seite hatte. Mit ihm hat sie ihren Sohn Hubert groß gezogen. Die gemeinsame Tochter starb bei ihrer Geburt. Kurz nach diesem Schicksalsschlag nahm sie eine Ziehtochter auf, die ebenfalls Maria hieß. Deren Eltern waren Anfang der 1930er Jahre, inmitten der Weltwirtschaftskrise, zu arm um das Kind selbst groß zu ziehen.
Elternhaus
In der Siedlung neben dem Kreuz des Urgroßvaters muss sein Elternhaus stehen. Matzendorf ist ein Nest mit einigen Bauernhöfen und Einfamilienhäusern. Viele hier heißen Keusch. Einer davon ist ein Fleischermeister und Viehhändler. Wir sind verwandt, die Großväter waren Cousins. Vielleicht ist heute jemand zu Hause und kann uns sagen, wo das Elternhaus des Urgroßvaters steht.
Vor dem Haus arbeitet eine Frau im Garten; es ist die Frau des Viehhändlers. Wir fragen sie, ob sie uns helfen kann. Sie bittet uns in das Haus und zeigt uns ein altes Bild von einem Bauernhof. Das Elternhaus des Urgroßvaters in seiner ursprünglichen Form. Dort ist er aufgewachsen, dort hat er seine Kindheit und Jugend verbracht. Die Haustür zeigt Richtung Ybbs. Nur eine Geländekante, etwa 50 Meter vom Haus entfernt befand sich damals der Fluss. Jedes Mal, wenn der Urgroßvater aus dem Haus ging sah er den Fluss, in dem er sterben sollte. Wir stehen an der Geländekante und sehen den Ort, an dem er ertrank. Der Bauernhof steht heute nicht mehr. Er wurde ab 1960 Schritt für Schritt abgerissen und durch ein neues Haus ersetzt.
Kapelle und Krieg
Mein Sohn und ich gehen noch eine Runde in Matzendorf. Wir kommen zu einer kleinen Kapelle. 1927 steht darauf, das Jahr, in dem sie erbaut wurde. Wir blicken in das Innere der Kapelle, vielleicht gibt es eine Spur der Familie. Wir finden keine. Aber wir entdecken eine Gedenktafel. Sie erinnert an die Opfer eines Bombenangriffes vom 15. Dezember 1944.
Sechs Menschen aus dem Ort starben damals. Der Angriff galt den Bahn- und Industrieanlagen von Amstetten, zwei Kilometer westlich. Im Zweiten Weltkrieg waren die Bomber noch nicht in der Lage, präzise zu treffen und verfehlten oft ihr Ziel. Noch Jahrzehnte und Generationen später sind die Geschehnisse von damals nicht vergessen. Das bezeugt eine Kerze, die in der Kapelle brennt; über siebzig Jahre nach dem tödlichen Bombenangriff.
Auch in unserer Familie war der Krieg präsent. Meine Urgroßmutter Maria erzählte mir als Kind oft vom Krieg. Sie sprach von den Bombenopfern in der Familie oder von Tieffliegerangriffen, vor denen man jederzeit Angst haben musste. Der Weg von den Dörfern im Ybbsfeld nach Amstetten war besonders gefährlich, weil es wenige Deckungsmöglichkeiten gab. Für Marias Sohn, meinem Großvater war er aber unausweichlich. Er war Lehrling in Amstetten und er musste jeden Tag dorthin. Einmal wurde er sogar zum Ziel eines Tieffliegerangriffes, den er mit viel Glück überlebte. Ein Straßengraben bot ihm Deckung, und die Maschinengewehrgarben des Flugzeuges verfehlten ihn.
Hermannsdorf
Wir verlassen Matzendorf und fahren weiter nach Hermannsdorf. Die zweite Station unseres Ausfluges in die eigene Geschichte. Hier ist Maria aufgewachsen. Nach dem Tod ihres Vaters und den wirtschaftlich harten Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg mussten sie und ihre Geschwister mithelfen, um die Familie zu ernähren. Damals ging es nicht darum eine Ausbildung zu erhalten oder gar Karriere zu machen. Es ging ums Überleben. Eine Mahlzeit war oft der einzige Lohn für einen langen Tag Arbeit auf dem Feld. Die eigene Landwirtschaft alleine reichte für das Überleben der Familie nicht aus. Deshalb mussten die Kinder bei den umliegenden Bauern arbeiten.
In Hermannsdorf scheint die Zeit still gestanden zu sein. Das Elternhaus von Maria steht noch, ebenso die Bauernhöfe aus der Zeit: Sie sehen noch fast so aus wie damals. Wir schieben das Eingangstor des Nachbarhofes zur Seite und blicken hinein. Im Hof sehen wir runde Steine aus der Ybbs, mit denen der Boden gepflastert ist, dazwischen wuchert Gras. Das Bauernhaus gegenüber wurde vor einigen Jahren renoviert, sieht aber noch genauso aus wie hundert Jahren.
Neben dem Elternhaus von Maria steht ein kleines, unscheinbares Haus mit der Hausnummer 30. Dieses Haus hat sie mit ihrem zweiten Mann in den 1930er Jahren gebaut. Darin wuchsen ihr Sohn und die Ziehtochter gemeinsam mit ihnen auf. So beschwerlich die Zeit der Weltwirtschaftskrise, des Austrofaschismus und des Krieges auch war, für Maria hat sie auch ein geregeltes Familienleben bedeutet. Ihr Mann war zwar im Krieg, aber nicht an der Front. Er war bei einem Beobachtungsposten der Fliegerabwehr, nur wenige Kilometer von zu Hause entfernt eingesetzt. Somit konnte er regelmäßig bei der Familie sein.
Das Dorf
Hermannsdorf ist ein Weiler am Ybbsfeld. So wie Matzendorf gehört es zu St. Georgen. Die drei Orte bilden ein Dreieck und sind jeweils etwa zwei Kilometer voneinander entfernt. St. Georgen ist ein typisches Dorf im Mostviertel. Es besteht aus einer Kirche, zwei Wirten, einem Schulhaus und einigen Bauernhöfen. Hier besuchten sowohl Maria als auch ihr Sohn die Schule. Eine Besonderheit im Ort ist die Fabrik, die es schon um 1900 gab. Eine Molkerei war bis in die 1980er in Betrieb.
Das heutige Bild ist vor allem durch die Siedlungshäuser geprägt, die dort ab den 1960er-Jahren gebaut wurden. In der Gemeinde leben viele junge Menschen. Das erkennen wir auch auf dem Friedhof. Der hat heute noch nicht die Größe, die er für die Zusiedler einmal benötigen wird. Er befindet sich rund um die Kirche, so wie es früher üblich war. Der Friedhof ist die dritte Station unserer heutigen Spurensuche.
Familie ohne Grab
Auf dem Friedhof in St. Georgen liegen meine Vorfahren begraben. Sowohl jene des Urgroßvaters, als auch die von Marias Familie. Eine Runde auf dem Friedhof zeigt sechs Gräber, auf denen wir unseren Familiennamen finden. In einem davon liegt der Urgroßvater, wir wissen jedoch nicht in welchem.
Von Marias Familie können wir kein Grab entdecken. Ihren Mädchennamen finden wir nur einmal; auf dem Kriegerdenkmal. Dort steht er unter den Gefallenen des Ersten Weltkrieges. Marias Vater war der Erste aus der Gemeinde, der im Ersten Weltkrieg gefallen ist. An der Ostfront. Dort wurde er von einer Granate zerrissen. Mit seinem Tod bekam der Krieg in der St. Georgen eine neue Facette. Der heldenhafte Kampf für Kaiser, Gott und Vaterland, wie es damals hieß, hatte die erste Frau aus dem Dorf zur Witwe gemacht. Sieben Kinder, eine davon Maria, wurden zu Waisen. Ihre Mutter heiratete nach dem Ersten Weltkrieg wieder und nahm den Namen ihres zweiten Mannes an.
Das Grab in dem Marias Mutter liegt, wurde vor etwa zehn Jahren aufgelassen. Sie und ihr Mann starben kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Sie waren die letzten der Familie, die in St. Georgen begraben wurden. Maria und ihre Geschwister liegen in Amstetten und Blindenmarkt. 2006 starb die jüngste Schwester. Neben dem Platz, auf dem sich das Familiengrab befand, steht ein Gedenkstein. Dieser erinnert an die Bombenopfer von Matzendorf; an jene, deren Namen auf dem Gedenkstein in der Kapelle stehen. Sie starben ein Jahr vor Marias Mutter und dem Stiefvater.
Resümee
Unsere Spurensuche in die Vergangenheit war sowohl für mich als auch für meinen Sohn mehr als nur ein aufregender Ausflug. Sie ließ uns in die Geschichte der eigenen Familie eintauchen und gab uns einen Einblick in die Vergangenheit. Und sie zeigte meinem Sohn, dass er nicht der einzige ist, der nicht bei seinem Vater lebt. Dennoch sind die heutigen Umstände nicht mit denen von damals vergleichbar. Mein Sohn kann regelmäßig Zeit mit mir verbringen und wir sind auch nur einen Anruf voneinander entfernt. So können wir, obwohl wir getrennt sind, auch zusammen sein.
Autor: Gerold Keusch
Mitarbeit: Uta Michaeler, Christina Vetta